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Historische Romane schreiben

Walter Kiefl
Anregungen, Probleme und Hinweise

Wer die Enge der Heimat ermessen will, reise.
Wer die Enge seiner Zeit ermessen will, studiere Geschichte (Kurt Tucholsky

Betrachtet man die Anzahl der Neuerscheinungen als Indikator, so scheint das Interesse an historischen Roman nach einem Aufschwung in den beiden letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts derzeit eher zu stagnieren. Dafür mag es mehrere Erklärungen geben, etwa ein schwindendes Interesse an Geschichte, die Sättigung des Marktes oder die generelle Abwendung vom Buch. Mitunter wird auch behauptet, dass die interessanten Themen und Epochen inzwischen ziemlich ausgeschöpft sind. Ein solcher Eindruck könnte entstehen, wenn man sich das vorhandene Angebot genauer betrachtet. Beschränkt man sich zum Beispiel auf die rund 3600jährige Geschichte des antiken Ägyptens von der frühdynastischen Epoche (ca 3200 v. Chr.) bis zur Christianisierung Ende des vierten Jahrhunderts, so fällt auf, dass sich die dazu vorliegenden Romane auf die XVIII. und XIX. Dynastie (1552 – 1186 v. Chr.) konzentrieren. Damit sind aber nur rund 10% der altägyptischen Geschichte belletristisch abgedeckt; frühere und vor allem spätere Epochen mit nicht weniger dramatischen Ereignissen sind dagegen wesentlich seltener vertreten (*1). Bei anderen Perioden, Kulturen und Ereignissen verhält es sich ähnlich: Historische Romane über Lateinamerika konzentrieren sich auf die Zeit der Konquistadoren, bei Japan steht der Beginn des Tokugawa-Schogunats (1603-1868) im Zentrum des Interesses von Romanschriftstellern und in der frühneuzeitlichen europäischen Geschichte sind u.a. die Hexenverfolgungen des 16. und 17. Jahrhunderts ein besonders häufig bearbeiteter Stoff. Eine solche Konzentration mag ihre Gründe haben, doch sollte dabei nicht übersehen werden, dass das menschliche Wirken in der Zeit mehr umfasst als die hinreichend behandelten und deshalb (nicht immer zu Recht) als bekannt angesehen Epochen und Themen. M.a.W.: für ambitionierte Autoren bietet die überlieferte Geschichte unendlich viele Anregungen (*2).

Anlässe und Motive

Für geschichtlich interessierte Schriftsteller gibt es – neben einer oft nicht weiter begründbaren Faszination bestimmter Epochen, Ereignisse und Persönlichkeiten – mehrere Gründe, einen historischen Roman zu schreiben.

– Prestige und Bildungswert: Ungeachtet ihres im Vergleich zur akademischen Geschichtswissenschaft eingeschränkten Anspruchs wird – vor allem im deutschsprachigen Raum – historischen Romanen ein gewisser Bildungswert zugesprochen. Auch wenn sie kein ernsthaftes Studium ersetzen können, schärfen sie doch den Blick für die Zeit- und Kulturabhängigkeit menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns. Im Unterschied zu den sich vorsichtig und gewissenhaft vortastenden Fachgelehrten besteht das höchste erreichbare Ziel dabei nicht im Nachweis, dass sich die interessierenden Ereignisse in einer bestimmten Weise abgespielt haben, sondern in einer möglichst lebendigen, für zeitgenössische Leser verständlichen, spannenden und doch um Ernsthaftigkeit bemühten Beschreibung vergangener Situationen, der sich daraus ergebenen Handlungsalternativen historischer Subjekte und den daraus folgenden Konsequenzen, die natürlich nicht im Widerspruch zu gesicherten Erkenntnissen stehen sollten (*3). Verfasser geschichtlicher Romane verkünden nicht „So hat es sich zugetragen“, sie mutmaßen nicht einmal: „So könnte es sich zugetragen haben“ sondern sie fragen allenfalls „Wenn es sich nun so zugetragen hätte?“ (*4).

Der Bildungswert historischer Romane beruht weniger auf einer ohnehin illusionären Authentizität und Objektivität der Darstellung als darauf, dass damit auf unterhaltsame Art der Glaube an die universelle Verbindlichkeit der eigenen Werte und des eigenen Weltbildes hinterfragt wird. Dies ändert zwar wenig an Leopold von Rankes (1795-1886) Feststellung, wonach „jedes Jahrhundert … die Tendenz (hat), sich als das fortgeschrittenste zu betrachten und alle anderen nur nach seiner Idee abzumessen“, doch können historische Romane dem (zumindest) latenten Ethnozentrismus und der unreflektierte Gegenwartsverhaftung entgegenwirken. Damit wird den Konsumenten vermittelt, dass sie zusätzlich zum Lesevergnügen etwas für die Vermehrung ihres Allgemeinwissens leisten, und so profitieren auch die Produzenten (d.h. die Autoren) vom immer noch vorhandenen höheren Prestige dieses Genres im Vergleich zum größten Teil der übrigen Unterhaltungsliteratur.

– Revision, Demaskierung, Relativierung: Abgesehen von ständigen Erkenntniszuwächsen aufgrund neuer Funde und schriftlicher Quellen (z.B. Bodenfunde, Dokumente, Veröffentlichung von Geheimakten) unterliegt die Wahrnehmung und Interpretation des Geschehenen einer permanenten, mit dem sozialen, kulturellen und politischen Wandel einhergehenden und von unterschiedlichen Interessenlagen beeinflussten Veränderung. So unterscheidet sich z.B. das mittelalterliche Geschichtsverständnis wesentlich von der „vaterländische“ Historiographie am Ende des 19. Jahrhunderts. In diesem Sinne ist die Geschichtswissenschaft – wie jede andere empirische Wissenschaft – prinzipiell revisionistisch (*5). Dies eröffnet ein weites Feld für historische Romane. Der Versuch, von Zeitgenossen und Nachwelt einseitig beurteilten historischen Personen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und traditionelle geschichtliche Überlieferungen (die nicht selten zu Mythen degeneriert sind) zu revidieren, ist daher ein häufiges und auch berechtigtes Motiv. Zur Demaskierung von Helden und Lichtgestalten (wie Alexander III. von Mazedonien (336-323 v. Chr.) alias „Alexander der Große“(*6) und der überfälligen Revision konventioneller Geschichtsbilder erscheinen Romane oft wirkungsvoller als Ergebnisse seriöser Forschung, die meist nur von einem begrenzten Kreis von Fachwissenschaftlern zur Kenntnis genommen werden.

– Der Perspektive der Unterlegenen zu ihrem Recht verhelfen: Da Geschichte (zumindest zum großen Teil) von den Siegern geschrieben wird (die die Möglichkeit haben, für sie wenig vorteilhafte Dokumente und Aussagen, z.B. über die Verantwortung für den Ausbruch von Kriegen zu fälschen, zu beseitigen oder unzugänglich zu machen), bieten Romane nicht nur die Möglichkeit, auch der Sichtweise der unterlegenen Partei Aufmerksamkeit zu verschaffen, sondern auch die, das Leben, Erleben und Leiden der vielen ungenannten „kleinen Menschen“ darzustellen, zumal die jeweiligen historischen Entscheidungsträger ohne das Vorhandensein und Dazutun ihrer Untergebenen ihre Position weder erringen noch ausfüllen hätten können. Mit anderen Worten: „Betrachten wir die Geschichte vom Standpunkt der Sieger, so vergessen wir allzuleicht die Opfer, die im Selektionsprozess vom Möglichen zum Wirklichen gnadenlos ausgemerzt werden.“ (Demandt 1986, S.135). Eine belletristische Betrachtung kann hier durch die ihr gestatte großzügigere (aber nicht unreflektierte) Einbeziehung von Phantasie und Empathie sowohl bewusstseinsschärfend als auch korrigierend wirken.

– Originelle Deutungs- und Lösungsvorschläge: Historische Romane bieten sowohl die Chance, die angebliche Zwangsläufigkeit historischer Prozesse in Frage zu stellen und alternative Ausgänge geschichtlicher Ereignisse ins Bewusstsein zu heben (*7), als auch – gleichsam „spielerisch“ – Anregungen zur Beantwortung bislang ungeklärter oder strittiger geklärter historischer Fragen zu geben, etwa zu den Kontakten zwischen Südamerika und Polynesien oder zur umstrittenen Umrundung Afrikas durch die Phönizier um 600 v. Chr.(*8). So habe ich beispielsweise im Roman „Die Flötenspielerin“ die Überlieferung an einigen Stellen „ergänzt“, zum Beispiel beim Tod des Regenten Sosibios. Der Überlieferung zufolge ist er kurz nach dem Ableben des Herrscherpaares Philopator und Arsinoe verstorben, wobei die Möglichkeit der gewaltsamen Beseitigung durch seinen Juniorpartner Agathokles meines Wissens bisher nicht in Erwägung gezogen wurde (*9).

Voraussetzungen

Eine wichtige Voraussetzung, um einen historischen Roman zu schreiben, ist neben dem Interesse an vergangenen Epochen geschichtliches Denken, d.h., das Bemühen, individuelles und soziales menschliches Handeln im Wechselspiel äußerer Gegebenheiten und menschlicher Strebungen möglichst unvoreingenommen und und im jeweiligen sozialen und kulturellen Kontext sehen zu wollen. In der Regel wird die Themenwahl von den speziellen Interessen und vom vorhandenen Wissen geprägt und begrenzt, doch spielen auch Persönlichkeitsmerkmale des Autors einschließlich seiner Neigungen, Wünsche und Ängste eine Rolle. Für das Gelingen und die Qualität eines Werkes kann es hilfreich sein, sich solcher Einflüsse und Gründe bewusst zu werden und die sich daraus ergebende Perspektiven kreativ zu nutzen. Wer z.B. eher Mäßigung, Ordnung und Sicherheit schätzt, wird soziale Bewegungen und Unruhen anders sehen und beschreiben als jemand, der an die Notwendigkeit revolutionärer Umgestaltung – notfalls auch mit Gewalt – glaubt. Solche Voreingenommenheiten haften vermutlich jeder Geschichte an, und sie sind es, die die Protagonisten lebendig und farbig machen, doch sollten sie glaubwürdig in den geschichtlichen Hintergrund eingebunden sein. Dies legt die Forderung nahe, sich eingehend mit dem jeweiligen historischen Kontext zu befassen und auch scheinbaren Nebensächlichkeiten Aufmerksamkeit zu schenken. Zeitbegriffe, Klima, Flora und Fauna, Wirtschaftsweise und Verkehrswesen, Münzen, Gewichte oder Städtenamen sind ebenso von Bedeutung wie die damals übliche Ernährung, soziale Differenzierung, Kleidung, Umgangsformen, Behausungen und vieles mehr. Aber auch noch so bemühte Autoren stoßen dabei an ihre Grenzen, würde dies doch ein zeitaufwendiges Studium der jeweils relevanten Spezialdisziplinen (z.B. Ägyptologie, Sinologie, Linguistik, vergleichende Religionswissenschaft, Rechtswissenschaft, Kirchengeschichte, Wirtschaftsgeographie, Numismatik, Botanik, Zoologie, Architektur usw.) beinhalten, von den Kenntnissen der jeweiligen Sprachen gar nicht zu reden. Hinzu kommt, dass allzu akribische Darlegungen und Beschreibungen und das Bemühen um maximale Objektivität wohl kaum auf großes Interesse eines breiteren Publikums stoßen, denn dieses will eher unterhalten als belehrt werden. Der Publizist und Schauspieler Egon Friedell (1878-1939) meinte dazu „Fände selbst ein Sterblicher die Kraft,, etwas so unparteiisches wie ein objektives Geschichtswerk zu produzieren, seine Leistung bliebe unbemerkt, denn kein anderer Sterblicher fände die Kraft, etwas so Langweiliges zu lesen.“ So kommen auch die gewissenhaftesten Autoren historischer Romane nicht darum herum, vieles unberücksichtigt zu lassen, zumal es besser ist, auf für den Handlungsfortgang unwesentliche Einzelheiten nicht weiter einzugehen als nachweislich Falsches zu berichten (*10). Dies gilt besonders dann, wenn die Darstellung in Form von Lebenserinnerungen, Tagebüchern oder Dokumenten erfolgt, da sich diese in der Regel an Zeitgenossen oder die unmittelbar nachfolgende Generation wenden, welchen beispielsweise die verwendeten Münzen oder Maße vertraut sind und deshalb nicht beschrieben werden müssen. Viele Auslassungen und Vereinfachungen fallen gar nicht auf, gehen doch auch die Verfasser von in der Gegenwart spielenden Erzaehlungen – glücklicherweise – wenig auf die Beschreibung von Selbstverständlichkeiten ein. Warum sollte sich dann der fiktive Erzähler oder Tagebuchschreiber in einem historischen Roman allzu detailliert mit damaligen Alltäglichkeiten befassen, zumal er sich in der Regel an Zeitgenossen oder unmittelbare Nachfahren wendet und nur selten an potentielle Leser in einer fernen Zukunft?

Dies bedeutet natürlich nicht, dass die Detailarbeit vernachlässigt werden darf, doch kommt es bei einem gelungenen geschichtlichen Roman in erster Linie darauf an, sich so gut wie möglich in die Situation der handelnden Personen zu versetzen und dabei – neben den zentralen Motiven wie z.B. der Erringung von Macht oder deren Bewahrung – die für die jeweilige Zeit charakteristischen Denkmuster, Glaubensvorstellungen, Konzepte und Begriffe zu erfassen. So kann man den Denk- und Handlungsweisen der Protagonisten nicht a priori „moderne“ Motive (z.B. Drang nach individueller Freiheit und Selbstverwirklichung bei einer im Mittelalter angesiedelten Erzählung)
unterschieben. Ein derartiges Bemühen schützt vor der unreflektierten Orientierung an jeweils gängigen zeitgenössischen Ideologien und Werten und deren Übertragung auf die Akteure der Erzählung. Ein Beispiel dafür ist die in manchen Ägyptenromanen durchscheinende Idealisierung des „Ketzerkönigs“ Echnaton (1364-1347), der mitunter als Vordenker und Wegbereiter des Monotheismus idealisiert wird, oder die besonders in der NS-Zeit vertretene Aufwertung des Cheruskerfürsten Armins, des mittelalterlichen Sachsenherzogs Heinrich oder des preußischen Königs Friedrich II. zum Vorkämpfer eines geeinten Deutschlands.

Vorbehalte

Gegen historische Romane bzw. die Arbeit daran wird mitunter angeführt, dass der Autor dabei mehr eingeengt ist, als bei Geschichten, die sich in der Gegenwart abspielen, denn der Ausgang der überlieferten Ereignisse ist nicht offen (durch seinen frühen Tod war Alexander III. von Makedonien nicht in der Lage, seine Welteroberungspläne bis zum unausweichlichem Scheitern zu realisieren; durch das Eingreifen Schwedens und Frankreichs im Dreißigjährigen Krieg ist die Gegenreformation in Deutschland nur teilweise gelungen, aufgrund der technischen und militärischen Überlegenheit der USA konnte das feudalistische Japan nicht in seiner selbst gewählten Abgeschiedenheit verharren usw.), zum anderen sind die Lebens- und Verhaltensweisen der handelnden Personen durch den vorgegeben geschichtlichen Rahmen begrenzt (zum Beispiel lassen sich nach modernen Begriffen emanzipierte Frauengestalten nur sehr eingeschränkt in Romanen aus dem Mittelalter unterbringen). Ungeachtet solcher Beschränkungen bleibt eine große Vielfalt an Epochen, Ereignissen, Themen und Darstellungsmöglichkeiten, zumal im allgemeinen die dichterische Freiheit mit dem zeitlichen Abstand zunimmt: Spärlichere Quellen und weniger Funde bedeuten weniger Wissen, und je geringer das Wissen ist, desto größer sind im allgemeinen die Spielräume von Phantasie und Kreativität.

Die „Einengung“ der Autoren durch den Rahmen der überlieferten Geschichte hat aber auch – wie jeder Rahmen – Vorteile, denn er gibt Halt und Struktur. Gleichgültig, wer die geschichtlich bedeutsamen Protagonisten der Erzählung sind – ihr Schicksal wird von diesem Rahmen bestimmt und kann nicht aus ihm herausfallen. Wen ein solcher Determinismus stört (zum Beispiel, weil er sich für seine Protagonisten einen positiven Ausgang wünscht), kann seine Geschichte um fiktive und geschichtlich wenig bedeutsame Figuren wie Berater, Erzieher, Kammerdiener, Leibwächter, Sekretäre, Tagelöhner, Söldner usw. zentrieren, zumal diese auch in dramatischen und katastrophalen Situationen ihr Glück finden können, denn: „Kein Ereignis ist so unglücklich, dass kluge Leute nicht irgendeinen Vorteil daraus zögen, und keines so glücklich, dass es ein Dummkopf nicht zu seinem Nachteil kehren könnte“ (Francois, Herzog von La Rochfoucauld; 1613-1680; französischer Moralist und Aphoristiker)..

Darstellungsformen

Wer einen geschichtlichen Roman schreibt, weiß in der Regel, mit welcher Epoche und mit welchem Thema er sich literarisch beschäftigen möchte, wenn es auch – wie bei allen Schreibprojekten – im Verlauf der Arbeit immer wieder zu Modifikationen – oft im Sinne einer Einengung zum Beispiel der Epoche oder des Raumes – kommen wird. So lässt sich das Schicksal eines Söldners zu Beginn der Neuzeit zunächst auf den Dreißigjährigen Krieg begrenzen, dann auf einen engeren Zeitraum (z.B. den Krieg gegen Dänemark), und schließlich auf bestimmte Personen und ihr Umfeld (z.B. Wallenstein). Dieser Prozess erfolgt in der Regel fast automatisch und ist unvermeidbar, vor allem bei einem Erstlingswerk, bei dem am Anfang häufig der erforderlichen Aufwand unter- und die eigene Kapazität überschätzt wird.

Autobiographien, Fremdberichte und Dokumente: Eine weitere wichtige Entscheidung ist, ob der Protagonist von sich selbst und seinen Gefühlen und Erlebnissen (d.h. autobiographisch) erzählt, oder ob „von außen“ von einer bestimmte Person oder von mehreren berichtet wird. Beides hat Vor- und Nachteile. Die autobiographische Variante bietet sich an, wenn es vor allem auf die Beschreibung der Gefühle, Überlegungen und Perspektive des Protagonisten angesichts einer bestimmten Situation ankommt und dafür ganz bewusst „Einseitigkeiten“ (zum Beispiel aufgrund von Unwissen oder Vorurteilen) in Kauf genommen werden oder sogar beabsichtigt sind. Ein gutes Beispiel dafür ist der zweibändige Roman „Marco Polo“ von Gary Jennings (*11): Der Leser sieht die Reise gleichsam durch die Augen des jungen Kaufmanns, der interessante Beobachtungen macht und Überlegungen anstellt, wobei ihn unterstellte zeittypische Kenntnisse und Voreingenommenheiten lenken. Über Ereignisse und Prozesse, die sich seiner unmittelbaren Beobachtung entziehen – z.B. Verschwörungen am Hof von Kublai Khan – kann er nicht oder nur partiell berichten, d.h. nur das, was ein Außenstehender zufällig aufschnappt, was ihm von Informanten, Intriganten oder vom Klatsch zugetragen wird, oder was er erst lange hinterher erfahren hat.

Bei einer nicht-autobiographischen Erzählung lässt sich das Geschehen umfassender, vollständiger und abgerundeter darstellen, was aber auf Kosten von Unmittelbarkeit, Lebendigkeit und Tiefe gehen kann. Eine dritte prinzipielle, aber relativ selten angewandte Variante besteht darin, die Geschichte anhand (echter und fiktiver) Aufzeichnungen darzustellen, z.B. als Tagebuch und/oder anhand von fiktiven Dokumenten wie Briefen, Chroniken, Gerichtsprotokollen, Verträgen, Zeitungsberichten usw.. Dies mag auf den ersten Blick „trocken“ und „blutleer“ anmuten, ist es aber mit Sicherheit nicht. Ein überzeugendes Beispiel für diese Vorgehens- und Darstellungsweise ist der Roman „Der Auftrag“ von Erwin Wickert, der in packender Weise die Geschichte des Taiping-Aufstands (1850- 1866) nur anhand von echten und fiktiven Quellen schildert (*12). Alle drei Vorgehensweisen lassen sich für einen Roman einzeln und kombiniert anwenden. So stützt sich zum Beispiel der bereits erwähnte Roman „Die Flötenspielerin“ sowohl auf die Erinnerungen des Protagonisten Ptah-hotep, als auch auf „objektive“ Berichte eines Erzählers und auf (fiktive) Chroniken und Briefe. Sofern nicht aufgrund der Vorlieben des Autors oder der Besonderheiten der Geschichten eine bestimmte Vorgehensweise naheliegt, lohnt es sich, damit zu experimentieren und sie ggf. in geeigneter Weise zu kombinieren.

Protagonisten

Bei den Protagonisten (z.B. dem Autobiographen oder der Hauptperson der Erzählung) handelt es sich häufig um reale geschichtlich wichtige Akteure. Dabei hat man im allgemeinen weniger schriftstellerische Freiheiten; vor allem müssen die grundlegenden Werke und Biographien und andere wichtige Quellen berücksichtigt werden. So kann ein Roman über Ludwig XVI. nicht mit der gelungenen Flucht des Königs enden, und Iwan den Schrecklichen als einen liebenswürdigen und nur ein wenig verschrobenen Zeitgenossen darzustellen passt allenfalls für eine satirische Erzählung. Trotz solcher Einschränkungen bleibt auch bei fiktiven Autobiographien bedeutender geschichtlicher Akteure ein weites Feld für einfühlsames und kreatives schriftstellerisches Arbeiten. Beispielhaft hierfür ist Marguerit Yourcemars Autobiographie des römischen Kaisers Hadrian (*13).

Als Verfasser von Lebenserinnerungen eignen sich auch mehr weniger bekannte reale oder erfundene Wegbegleiter, wie Verwandte, Freunde, Erzieher oder Berater oder gänzlich unbekannte fiktive Menschen aus dem engeren (Arzt, Beichtvater, Leibwächter) oder weiteren Umfeld (Nachbar, ehemaliger Mitschüler) geschichtlicher Handlungsträger. Ein weniger bekannter oder ein rein fiktiver Protagonist, der den Entscheidungen der Mächtigen und den geschichtlichen Ereignissen unterworfen ist, erlaubt dem Autor aufgrund des Fehlens falsifizierender Quellen einen größeren Spielraum (*14). Dabei ist zu berücksichtigen, dass bei ihnen nicht nur das Ausmaß ihres Einflusses auf die Ereignisse von ihrer sozialen Stellung abhängt, sondern auch von den ihnen plausiblerweise unterstellbaren Kenntnissen und Fertigkeiten. Hinsichtlich der geschilderten Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken besteht ein größerer, aber auch nicht grenzenloser Freiraum.

Die häufige Zentrierung um geschichtliche Persönlichkeiten ist keine notwendige Bedingung für einen guten Roman. So kommen zum Beispiel Erzaehlungen über den Hexenwahn im 16. und 17. Jahrhundert weitgehend ohne sie und die von ihnen verursachten weiterreichenden Entscheidungen, Handlungen und Ereignisse aus (*15). Was dabei aber nicht fehlen darf, sind Schilderungen des damaligen Alltagslebens und – noch wichtiger – der vorherrschenden Gedanken- und Gefühlswelt, also der zeitgenössischen Überzeugungen, Werte und Ängste. So waren zum Beispiel in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Vorstellungswelt auch für die Gebildeten Teufel und Hexen reale Gestalten, welchen man auch im Alltag begegnen konnte. Auch die Skeptiker und Kritiker der Verfolgungspraxis haben sich größtenteils innerhalb dieses (auch verbindlich vorgegebenen) kulturellen Zusammenhangs bewegt, indem sie eher den geringen Wert von unter der Folter erzwungenen Geständnisse hervorgehoben haben, anstatt öffentlich an der Existenz von Hexen zu zweifeln, zumal sie das selbst auf den Scheiterhaufen gebracht hätte. Einige hundert Jahre später hat man den Glauben an solche Kontakte anders interpretiert und die Betreffenden wurden dem Psychiater und nicht dem Inquisitor und Henker zugewiesen.

Stützt man sich bei der Erzählung auf Tagebücher und persönliche Aufzeichnungen, sollten die Protagonisten jedoch aus den lese- und schreibkundigen höheren sozialen Schichten stammen, denn es ist wenig glaubwürdig, wenn beispielsweise im 14. Jahrhundert ein Bauernmädchen oder ein Metzger Tagebücher führt und darin auch tiefgründige theologische Überlegungen anstellt.

Wesentliche Arbeitsschritte

Wie bereits betont wurde, kommen Autoren historischer Romane bei der Ausarbeitung ihres Konzepts um ein Studium der vorhandenen Grundlagenliteratur nicht herum. Nützlich ist auch – soweit nicht ohnehin schon geschehen, die Lektüre anderer, in derselben Epoche spielender Erzaehlungen. Das Ergebnis solcher Bemühungen ist ein zunächst noch relativ offenes Konzept. Für die weitere Arbeit daran verdienen folgende Punkte Beachtung:

– Kenntlichmachung von Forschungsstand und Fiktion: Zur Orientierung und zur Unterstützung der Bildungsfunktion historischer Romane sollten die Leser in die Lage versetzt werden, zwischen wissenschaftlich belegten Ereignissen und Gegebenheiten, plausiblen Mutmaßungen und freien Schilderungen und Interpretationen des Autors zu unterscheiden. Dazu dienen dem aktuellen Wissens- und Forschungsstand skizzierende Vor- oder Nachbemerkungen, ein Glossar und eine detaillierte Zeittafel, in der auch die wichtigsten biographischen Daten der fiktiven Personen bzw. Vorkommnisse (Geburt, Ausbildung, Verlust der Eltern, Heirat, Tod usw.) enthalten sind. Da eine derartige Chronik auch ein unverzichtbares Hilfsmittel für eine stimmige Komposition der Erzählung ist, sollte diese möglichst früh angelegt werden.

– Charakterisierung der Epoche und des jeweiligen geographisch/ kulturellen Raumes. Dazu gehört auch die Darstellung der vorherrschenden historisch belegten oder zumindest plausiblen Interessen- und/oder Wertkonflikte sowohl zwischen Kollektiven und ihren Repräsentanten (Staaten, Völkern, Klassen, Organisationen usw.) als auch zwischen den Handlungsträgern. Neben den zeitbedingten Aspekten solcher Konflikte (z.B. Feudalherr – höriger Bauer, Fabrikbesitzer – Arbeiter, Priesterschaft – religiöser Reformer), sind auch deren zeitlosen und/oder latenten Dimensionen (z.B. Ehrgeiz, Eifersucht, Erringung oder Behauptung von Macht) zu berücksichtigen.

– Herausarbeitung der zentralen Motive, Interessen und Eigenschaften der Protagonisten. Da es nicht darauf ankommt, ob diese Motive in der Gegenwart Billigung finden oder nach heutigem Verständnis „politisch korrekt“ sind, sollten sie nicht von vorneherein als verwerflich dargestellt und verurteilt werden (*16), indem zum Beispiel deren Vertreter a priori als finstere und hässliche Gestalten erscheinen. In einem guten, d.h. sowohl informativen als auch mit Empathie geschriebenen Roman kommen auch die Beweggründe etwa des Christenverfolgers Diokletian (284-305), der frühneuzeitlichen Hexenjäger oder des Schoguns Iemitsu Tokugawa (1623-1651) zu ihrem Recht. Diese Menschen handelten aus dem Verständnis ihrer Epoche heraus nicht mehr oder weniger „böse“ oder unklug als die ihrer Gegenspieler und/oder auf lange Sicht erfolgreicherer Nachfolger oder die aktueller geschichtliche Handlungsträger, sie hatten bestimmte Vorstellungen, Wünsche und Ängste. Ihre Handlungen waren durchaus auch von der Sorge um das Wohl ihrer Mitmenschen bestimmt. Zudem sind tragisch Gescheiterte wie Julian Apostata (360-363) oft auch interessanter als ihre siegreichen Gegenspieler.

– Vermeidung von Klischees und Allgemeinplätzen: Ein häufiger Fehler – allerdings nicht nur historischer Romane – besteht in der inflationären Verwendung stereoyper Bildern, auch und vor allem bei den Randfiguren: Nicht jeder Händler ist gerissen, nicht jeder Koch dick, nicht jede Prostituierte verführerisch und nicht jeder Diktator grausam. Gerade Personen, die sich nicht erwartungs- und rollenkonform verhalten, stellen eine Herausforderung für den Autor und einen Reiz für den Leser dar. Ähnliches gilt auch für Allgemeinplätze: die Welt und das menschliche Erleben und Verhalten sind bunter, vielschichtiger und tiefgründiger, als das Bild davon in der Trivialliteratur und vor allem in Medien und Werbung: Sonne und Wärme sind nicht immer willkommen, Geld und viel Freizeit werden nicht durchgängig als Allheilmittel vom Alltagsfrust angesehen, nicht jeder Einsame ist unglücklich und nicht jeder strebt im Urlaub nach exotischen Zielen. Entsprechendes gilt auch für die Menschen vergangener Zeiten, deren angebliche Unterordnung häufig nur erzwungen war. Ob die Menschen im Mittelalter frömmer als heute waren, wissen wir nicht, doch ist zu vermuten, dass sie mehr Angst hatten, aber auch über mehr Praktiken (z.B. Rituale) verfügten, um damit umzugehen. Dennoch gab es auch in dieser Epoche viele aufmüpfige und non-konforme Geister, wenn auch deren Spuren schwieriger auszumachen sind als heute.

– Überprüfung der Erzählung auf Stimmigkeit (Widerspruchsfreiheit) und Plausibilität: Es empfiehlt sich, diesen wichtigen Schritt nicht nur einmal, in der Endphase der Arbeit, vorzunehmen, sondern immer wieder. Dies sollte vornehmlich (aber nicht ausschließlich) durch Außenstehende erfolgen, am besten durch einen erfahrenen Lektor. Da solche Hilfen nicht billig sind, begnügen sich viele Autoren mit Personen aus ihrem Freundes- und Bekanntenkreis. Das muss keine schlechte Lösung sein, doch sollte dabei bedacht werden, dass sich derartige Probeleser – abgesehen von eventuell unzureichender Kompetenz – häufig im Dilemma zwischen Ehrlichkeit und Wohlwollen sehen. Nur wenige Autoren sind immun gegen Kritik, besonders wenn sie ihnen unbegründet erscheint und zudem vielleicht auch noch ungeschickt formuliert ist. Weiterhin ist zu überlegen, ob man das Manuskript besser Interessierten oder gar Experten oder „naiven“Beurteilern vorlegt. Falls möglich, sollte man beides tun, denn gerade Letztere eignen sich dazu, unverständliche Formulierungen und Passagen aufzufinden.

Anmerkungen

1. zu den Ausnahmen gehören zum Beispiel die Romane von Christian Jacq (Der schwarze Pharao;. Reinbek: Rowohlt 2000; Die letzten Tage von Philae;. Reinbek: Rowohlt 1998; oder Götterfluch; München: Blanvalet 2012)

2. Gerade die Beschäftigung mit gescheiterten, verfemten Personen und (aus heutiger Sicht) „unsympathischen“ Ideen ist oft lohnend – gemäß der Erkenntnis von Immanuel Kant „Die schlechten Menschen gewinnen, wenn man sie genauer kennenlernt, die Guten verlieren.“ Eine differenzierte Darstellung der Personen und ihrer Motive ist keine Domäne von Wissenschaft und Forschung, sondern steht auch Romanen gut an.

3. dazu eine kleine Auswahl von m.E. besonders ausgezeichneten historischen Romanen: James Clavell: Shogun. München: Knaur 1975; Pauline Gedge: Der Adler und der Rabe; München: Blanvalet 1988; diess.: Pharao. Reinbek: Rowohlt 1992; Gary Jennings: Marco Polo, Bd. I und II; Frankfurt/M., Fischer 1987; ders.: Der Azteke; Frankfurt a.M Fischer 1994; Amin Maalouf: Der Mann aus Mesopotamien. München: Knaur 1994; Salvador de Madariaga: Das Herz von Jade; Berlin, Darmstadt, Wien: DBG 1957; Mary Renault: Ein Weltreich zu erobern. Ein Roman um Alexander den Großen; München: Knaur 1995; Duncan Sprott: Der Satrap von Ägypten. Hamburg, Wien: Europa-Verlag 2003; ders.: Daughter of the Crocodile. London: Faber 2006; Gore Vidal: Julian; Hamburg: Hoffmann und Campe 1988; Mika Waltari: Sinuhe der Ägypter. Bergisch-Gladbach: Lübbe 1978; Erwin Wickert: Der Auftrag. Berlin, Darmstadt, Wien: DBG 1965; Marguerite Yourcemar: Ich zähmte die Wölfin. Die Erinnerungen des Kaisers Hadrian. München: Goldmann 1998

4. nach Eloise Jarvis McGraw im Vorwort zu ihrem Roman „Pharao. Lebensroman der ersten Königin Altägyptens (deutsche Ausgabe 1964 bei Mohn (Gütersloh) erschienen)

5. Mit anderen Worten: Auch als gesichert geltende Erkenntnisse müssen prinzipiell einer Widerlegung (z.B. durch neue Quellenfunde) zugänglich sein. Insofern ist es widersinnig, einen bestimmten Wissenstand dogmatisch festzuschreiben und Revisionsversuche strafrechtlich zu verfolgen. Ungeeignete, d.h. strengen wissenschaftlichen Kriterien nicht genügende Behauptungen und Neuinterpretationen werden sich – wie auch in anderen Disziplinen – von selbst erledigen. Jemand, der behauptet, dass die Erde eine Scheibe ist, wird schließlich auch nicht eingesperrt, sondern nur belächelt.

6. Dazu einige Beispiele: Gemessen an der Zahl der verhängten Todesurteile war der berüchtigte römische Kaiser Nero (54-68) weniger blutrünstig als manche seiner christlichen Nachfolger. Während in der populären Überlieferung der englische König Richard Löwenherz (1189-1199), der u.a. an einem Tag über 3.000 wehrlose moslemische Kriegsgefangene ermorden ließ, als tapferer Held und sein jüngerer Bruder Johann (1199-1216) als hinterlistiger Schurke dargestellt wird, hat die Forschung gezeigt, dass der kampfwütige Richard – abgesehen von der Erpressung immer höherer Steuern für militärische Abenteuer – an seinem Königreich ziemlich desinteressiert war, wohingegen sich Johann – wenn auch nicht immer erfolgreich – um die Wohlfahrt seines Landes gekümmert hat. Bei den im Nachhinein vorgenommenen Aufwertungen durch die Bezeichnung „der Große“ handelt es sich häufig um Instrumentalisierungen der betreffenden Person, weil die ihnen zugeschriebenen Taten im Nachhinein unterstellten religiösen oder imperialen Zielsetzungen entsprochen haben, wobei moralische Maßstäbe im Erfolgsfall (!) meist keine Rolle spielen. Dazu der österreichische Schriftsteller Ludwig Anzengruber (1839-1898): „Wer mehr Qualen bereitet als erleidet, den nennt man glücklich, und wenn es seine Mittel erlauben, das erstere im großen Maßstab zu tun, der heißt wohl auch groß“.

7. in diesem Zusammenhang sei auf die ausgezeichnete und (gerade für Autoren historischer Romane) höchst anregende Abhandlung „Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage: Was wäre geschehen, wenn …?“ von Alexander Demandt (Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 1986) hingewiesen

8. dazu – mit weiteren Quellenangaben – Walter Kiefl: Nechos Afrikaumschiffung – Seemännische Großtat oder antipersische Propaganda? In: Zeitensprünge. Interdisziplinäres Bulletin, 14. Jg., 2002/1, S.13-17

9. Walter Kiefl: Die Flötenspielerin. Aufstieg und Fall der Agathokleia von Samos. München: MentaLibre 2015. Der Roman beruht auf der Überlieferung des Historikers Polybios (201-120 v. Chr.) über die dramatischen Ereignisse nach dem Tod von Ptolemaios IV. Philopator am Ende des 3. vorchristlichen Jahrhunderts. Im Mittelpunkt der Erzählung stehen die geschichtlich belegte Hetäre Agathokleia und der (frei erfundene) ägyptische Priester Ptah-hotep. Die zunächst von latenter Verachtung und Feindseligkeit geprägte Beziehung zwischen dem ungleichen Paar entwickelt sich im Laufe der Zeit zu einer spannungsvollen Annäherung, wobei beide Protagonisten lange Zeit bemüht sind, ihre Gefühle voreinander zu verbergen. Die Handlung orientiert sich zwar an den von Polybios überlieferten Daten und Ereignissen, doch ist dabei zu berücksichtigen, dass die den Ptolemäern durchgängig kritische Überlieferung keine ausgewogene Beurteilung mehr ermöglicht. So zeigt sich bei der Charakterisierung von Personen die Tendenz zur Polarisierung, indem die „Bösen“ als böser und die „Guten“ als besser dargestellt werden, als sie vermutlich gewesen sind. Eine solche aus der allgemeinen Neigung zur Typisierung und Vereinfachung resultierende Haltung tritt noch stärker in der sogenannten Trivialliteratur auf, für die das Bemühen nach bis zu Karikaturen verstümmelten „geschlossenen“ Gestalten kennzeichnend ist. In bewusster Abhebung davon wurde hier versucht, dieses Prinzip zu durchbrechen, indem Verhaltensweisen und Eigenschaften von „Helden“ relativiert und „Bösewichtern“ auch nachvollziehbare und sogar sympathische Charakterzüge zugestanden werden. Weiterhin wurde darauf geachtet, „verwerfliche“ Handlungsweisen nicht vorschnell und mit dem intellektuellen und moralischen Rüstzeug der Gegenwart zu beurteilen, sondern aus der Sicht eines fiktiven Zeitgenossen, des grundsätzlich pessimistischen und konservativen Priesters Ptah-hotep, der das Geschehen sowohl distanziert als auch empathisch aus den jeweiligen Interessen und Motiven der Handelnden betrachtet.

10. Trotz aller Sorgfalt können dabei Fehler unterlaufen, doch sollten sie nicht zu offensichtlich sein. So sah sich zum Beispiel Noah Gordons Medicus genötigt, das von Moslems eroberte Konstantinopel zu meiden, was aber gar nicht erforderlich gewesen wäre, weil die Stadt im 11. Jahrhundert (der Zeit des Medicus) noch griechisch war und erst 1453 an die Osmanen gefallen ist (Gordon, Noah: Der Medicus. Roman. München: Knaur 1990). Solche auch für Laien erkennbare Fehler wecken Zweifel an der Kompetenz des Autors auch hinsichtlich anderer, für den Handlungsablauf bedeutsamerer Fakten.

11. Jennings, Garry: Marco Polo. Der Besessene. Von Venedig zum Dach der Welt (Bd.I) Im Land des Kubilai Khan (Bd.II); Frankfurt/M.: Fischer 1987

12. Wickert Erwin: Der Auftrag. Roman Berlin, Darmstadt, Wien: DBG 1965

13. Yourcemar, Marguerite: Ich zähmte die Wölfin. Die Erinnerungen des Kaisers Hadrian. München: Goldman 1998

14. Mary Renault: Ein Weltreich zu erobern. Ein Roman um Alexander d. Großen. München: Knaur 1995Renault

15. zum Beispiel Iny Lorentz: Die Ketzerbraut. München: Knaur 2010; Oliver Pötzsch: Die Henkerstochter und der schwarze Mönch. Berlin: Ullstein 2009

16. als der junge Temudschin (später Dschinghis Khan; 1206-1227) verfolgt wurde, entzog er sich der Gefangennahme, indem er seine junge Frau zurückließ, die damit in die Hände der Feinde fiel. In der 1662 niedergeschriebenen Geschichte der Mongolen (Sagang Secen: Geschichte der Mongolen und ihres Fürstenhauses; Zürich: Manesse, o.J. (=Manesse Bibliothek der Weltgeschichte) und späteren Aufzeichnungen wird diese uns als „feige“ und „egoistisch“ erscheinende Handlungsweise nicht verurteilt, sondern als List gewürdigt.