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Weihnachten durch die Lesebrille

Autor:
Manfred Piepiorka
Verlag:
Fabuloso Verlag
Erscheinungsjahr:
2021
Sonstiges:

Pb., 60 S.;
Preis: 5,80 Euro
ISBN: 978-3-949150-09-8
10 Zeichnungen

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Oder direkt beim Autor.
Leseprobe
Die Lesebrille „Also bitte, hör auf! Das Teil kannst Du nun wirklich ge­trost in die Altkleidersammlung geben. Außerdem, was hat das zwischen den Weihnachtsdekorationen zu suchen?“ Die Sprecherin, eine dunkelhaarige, schlanke Frau in den Dreißigern, richtet sich auf. Zwischen den Fingerspitzen beider Hände baumelt ein gänzlich aus der Mode gekommenes Plisseekleid. Die ältere Frau, an die die Worte gerichtet sind, ist offenbar nicht glücklich darüber: „Susanne, ich kann doch nicht alles weggeben. Das hat mal viel Geld gekostet. Und dein Vater mochte es doch auch so gerne. Fast immer, wenn wir tanzen gingen, habe ich es angezogen.“ „Mama, jetzt reicht es! Wir waren uns doch einig, endlich den Boden aufzuräumen. Papa ist vor fast acht Jahren gestorben. Und schon lange vorher wart ihr nicht mehr tanzen. Dieses Kleid zu entsorgen, ist längst überfällig.“ Ein etwa neunjähriges Mädchen schiebt sich in diesem Augenblick zwischen die beiden Erwachsenen. Es muss in den äußersten Ecken herumgekrochen sein. Haare und Kleidung sind mit Staub und Spinnweben verschmutzt. In der rechten Hand schwenkt das Mädchen eine Brille. Mit heller Kinderstimme fragt es: „Oma, was ist das für eine komische Brille? Das ist ja eine Kinderbrille. Aber … wenn man … hindurchschaut, ändert sich gar nichts.“ Die ältere Dame wendet ihre Aufmerksamkeit dem Kind mit dem rotblonden Wuschelkopf zu: „Fannimaus, wo hast du die denn ausgegraben?“ Die Gefragte sprudelt umgehend hervor: „Da hinten unter der Dachschräge am Giebel liegt ein alter Karton. Ganz viele Bücher, eine Puppe und die komische Brille sind darin. Was ist das für eine Brille?“ Bevor die Rentnerin antworten kann, fällt ihr die unverwechselbar als Mutter des Mädchens zu erkennende junge Frau ins Wort: „Mama, du sollst nicht immer „Fannimaus“ zu Franziska sagen. Ich mag das nicht!“ Nahezu im gleichen Atemzug wendet sie sich ihrer Tochter zu: „Komm, Franziska, unterbrich uns nicht beim Zusammensuchen des Weihnachtsbaumschmucks. Und die Brille … Die ist … ist auch nichts Besonderes. Geh wieder spielen.“ Beleidigt zieht das Mädchen davon. Mit einem leisen, wissenden Lächeln schaut ihr die Oma nach. Stunden später stehen sie und die Enkeltochter am Küchentisch beim Ausstechen diverser Plätzchen, die bald zum Backen in den Ofen müssen. Der vierte Adventssonntag steht vor der Tür. Und da dürfen selbstgebackene Plätzchen nicht fehlen. Das Mädchen verziert die ausgestochenen Teile mit Mandeln, bunten Streuseln und Marmelade. Ohne Proteste zu befürchten, nascht es selbst hin und wieder ein Stückchen der Leckereien. Einen Cashewnusskern genussvoll zerbeißend erkundigt sich das Mädchen plötzlich nuschelnd: „Oma, die Brille, was ist damit? Mutti ist ja nicht da. Sie wollte nicht darüber sprechen. Stimmt´s?“ Die Rentnerin antwortet nicht sofort. Ihr Blick geht in eine Ferne, die nicht in Metern sondern nach vergangenen Jahren gemessen wird. Schließlich wendet sie sich ihrer Enkelin zu: „Tja, Fannimaus, du magst Recht haben. Dabei ist die Sache gar nicht so schlimm. Als du da oben auf dem Speicher mit dieser Brille ankamst … Mit einem Mal traten so viele Bilder in meine Erinnerung. Die Brille … Eigentlich gehört sie deiner Mutter. Weißt du, ich hatte die Angelegenheit fast vergessen. Es ist ja auch schon so lange her. Deine Mutter kann höchstens fünf Jahre alt gewesen sein. – Warte einmal. Ja, so war es. Damals, es war auch kurz vor Weihnachten. Ich benötigte eine neue Lesebrille. Gemeinsam mit deiner Mutter fuhr ich in die Stadt, um das neue Brillengeschäft aufzusuchen. Dort erhielt man die beste Beratung. Unser Weg führte über den Weihnachtsmarkt. Natürlich lockte das eine oder andere Fahrgeschäft und auch mancher Stand mit Süßigkeiten. Und deine Mutter ließ sich gerne davon verzaubern. Jedenfalls verging die Zeit und ich drängte endlich auf den Besuch beim Optiker. Die Beratung dort war wie immer hervorragend. Aber alles zog sich furchtbar in die Länge. Schuld daran war deine Mutter. Genauer gesagt, ihre Neugier. Dauernd unterbrach sie das Beratungsgespräch mit irgendwelchen Fragen. Sie wollte zum Beispiel wissen, wie Brillen hergestellt werden. Oder warum man mal helle und dann wieder dunkle Gläser verwendet. – Die Optikerin hatte eine Engelsgeduld. Sie beantwortete jede Frage. Später erkundigte sich deine Mutter, wozu denn meine neue Brille erforderlich sei. Ihr wurde erklärt, dass ich solch eine Brille benötige, um lesen zu können. Und viele andere Menschen könnten ebenfalls nur deshalb lesen, weil sie vom Optiker eine gute Lesebrille erhielten. Irgendwann brannte mir die Zeit unter den Nägeln. Ja, deshalb unterbrach ich die Fragerei. Deine Mutter hätte mit ihrer Neugier gewiss noch lange kein Ende gefunden. Zuhause angekommen, quengelte sie nur noch herum. Sie wollte, obwohl sie gar keine Probleme mit den Augen hatte, unbedingt eine Brille haben. – Mir ging die Maule­rei schon bald auf die Nerven. Dein Opa sah das anders. Er meinte, es sei doch bald Weihnachten. Also könnte man dem Kind doch eine Freude machen. Schließlich er­klärte er, er werde das schon hinbekommen. Das Ende vom Lied: Eine Kinderbrille wurde bestellt. Allerdings wusste deine Mutter nicht, dass Opa einfaches Fensterglas einsetzen ließ. Einen Tag vor Heilig Abend fuhren wir gemeinsam in die Stadt, um die neuen Sehhilfen abzuholen. Diesmal interessierte sich deine Mutter für kein Karussell und auch nicht für Leckereinen auf dem Weihnachtsmarkt. Das Brillengeschäft war schnell erreicht. Voller Stolz setzte deine Mutter die ihr zugedachte Brille auf. Und bevor die Optikerin den korrekten Sitz kontrollieren konnte, rutschte deine Mutter wieder vom Stuhl und verschwand wie ein Wiesel hinter dem Tresen. Wenig später nahm sie mit der Tageszeitung in der Hand erneut bei uns Platz. Deine Mutter breitete die Zeitung aus. Erst betrachtete sie ei­nen der Artikel intensiv, dann jeden anderen. Sie blätterte zur nächsten, danach zur übernächsten Seite und wieder zurück. Mehrmals setzte deine Mutter ihre Brille ab. Sie prüfte die Gläser auf Verschmutzung, schob den Rahmen auf der Nase vor und zurück. Endlich nahm sie die Sehhilfe endgültig von der Nase. Mit ärgerlichem Gesichtsausdruck hielt deine Mutter der Optikerin die Brille schimpfend hin: Die will ich nicht! Das ist gar keine richtige Lesebrille. Ich kann überhaupt nichts in der Zeitung lesen! Es dauerte eine Weile, bevor wir Erwachsenen begriffen. Dann mussten wir einfach nur noch lachen. Deine Mutter glaubte doch tatsächlich, sobald man eine eigene Lesebrille aufsetzt, kann man lesen, ohne es vorher gelernt zu haben. Dass sie da etwas falsch verstanden hatte, wollte sie nicht begreifen. Es war richtig schwer, sie von ihrem Irrtum zu überzeugen. Sie war maßlos enttäuscht. Opa kaufte die Brille trotzdem. Schön verpackt landete sie bei den Weihnachtsgeschenken unter dem Lichterbaum. Deine Mutter rührte sie jedoch nie wieder an. Ich habe sie zur Erinnerung zu den anderen Sachen in den Karton gelegt. – Tja, Fannimaus, deiner Mutter ist die Angelegenheit wohl peinlich.“ Darauf meint die Enkeltochter mit wichtiger Miene: „Oma, ich kann Mutti verstehen. Weißt Du was? Das ist jetzt ein kleines Geheimnis zwischen uns. Hebst du die Brille bitte auf. Ich möchte sie später zur Erinnerung behalten. Ja?“ Die alte Frau steht auf, umrundete den Tisch und legt die Arme um ihre Enkeltochter: „Ja, Fannimaus, das machen wir. So, nun räumen wir auf. Deine Mutter kommt sicher bald, um dich abzuholen.“
Rezension
Von mir gelesen: „Weihnachten durch die Lesebrille“ (Dr. Esther Morales-Cañadas)

Als ich bei der Buchmesse Berlin an unserem Stand war, kam fast von allein das Buch von Manfred Piepiorka in meine Hände. Ich kaufte es, da ich nach Hause wieder über drei Stunden im Zug sitzen musste und es mir damit gemütlich machen wollte.

Die Kälte von Berlin und die schon angefangenen Weihnachtsmärkte kündigten mir an, dass die Adventszeit schon vor der Tür steht. Ich hatte noch keine Zeit gehabt, davon etwas zu spüren.

Und endlich saß ich am Sonntag im Zug und las „Weihnachten durch die Lesebrille“. Plötzlich erschien in meiner Vorstellung das Bild eines Weihnachtsbaumes mit echten Wachskerzen, deren Flammen funkeln, und damit erwachten auf einmal alle Erinnerungen der Kindheit. So denke ich, hat Manfred sein Büchlein konzipiert. Es sind wahrscheinlich Szenen aus seiner Kindheit, aus seiner eigenen Familie oder von Bekannten oder Verwandten.

In jeder Erzählung wird eine neue Atmosphäre gestaltet, z.B. die Weihnachtsbescherung, die die Freude der Kinder hervorruft, aber auch die der Erwachsenen, die in diesen Tagen am liebsten wieder Kinder sein würden. Und fast in jeder Geschichte findet der Leser ein ähnliches Erlebnis seiner eigenen Kindheit oder der eigenen Beobachtung unseres Alltäglichen.

Nicht alle Kapitel haben unbedingt mit Weihnachten zu tun, doch mit dieser winterlichen Zeit, die so geeignet ist, gemütlich mit der Familie beisammen zu sein, zusammen zu basteln, zu backen oder eben, sich gegenseitig Märchen oder Geschichten vorzulesen und zu erzählen. Dieses Buch ist ohne Zweifel dafür geeignet.

Nur etwas hat es mir gefehlt, und zwar, dass die Schreibart sich auch dafür angepasst hätte. Der Autor bevorzugt die Verwendung von sehr kurzen Sätzen, was zum Lesen akzeptabel ist, jedoch nicht zum Vorlesen, weil damit die Emotionen etwas verloren gehen. Man muss jedoch den Stil von jedem respektieren.

Ich empfehle auf alle Fälle dieses Buch für die Adventszeit, denn so kann man die heutigen Umstände besser verkraften und mit dem Herzen schmunzeln.

Klappentext

Weihnachten durch die Lesebrille

Ein kleiner Junge ist mit seinem Weihnachtsgeschenk nicht einverstanden. Die Hilfe für eine arme Frau lässt die Frage der Nächs­ten­liebe ins Bewusstsein kommen. Was kann man bei der Beobachtung des Horizonts fürs Leben lernen? Die Rettung eines Schwans lässt die Gemüter erhitzen.

Weihnachten wird zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kulturen unterschiedlich zelebriert. Vor allem am Anfang des 20. Jahrhunderts, als es noch nicht die Fülle an Konsum gab, wurde in den Familien mehr Wert auf das Miteinander, Geborgenheit, Gemeinsamkeit und Lie­be gelegt. Kleine Dinge hatten eine größere Bedeutung.
Auch ein schön geschmückter Weihnachtsbaum wurde anders wertgeschätzt als im 21. Jahrhundert. Heute ist er oft nur noch ein Dekorationsstück.
Manfred Piepiorka hat eigene Erlebnisse, nachdenk­liche Begebenheiten und Humorvolles in diesem kleinen Büchlein veröffentlicht.
Die Vielschichtigkeit der Geschichten lässt keine Langeweile aufkommen und lädt den Leser immer wieder ein, vielfältige „Weihnachten durch die Lesebrille“ zu betrachten.